"Wir kennen uns nie ganz, und über Nacht sind wir andre geworden, schlechter oder besser."

(Theodor Fontane)

Liebe Kinder!

Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Wir Erwachsene haben die Erkenntnisse daraus (aus unserer Sicht, unserem Wissensstand) zu eurem Vorteil verwertet. Wir haben euch optimal gefördert, euch so viel wie möglich Wissen vermittelt, euer Gehirn mit Lexika, mathematischen Ableitungen, physikalischen Gesetzen, chemischen Formeln und grammatikalischen Gesetzen voll geschrieben. Ziel unseres Strebens war es, aus unserer Sicht wichtige Daten schnell und effizient auf eure Festplatten zu speichern. Dabei sind uns etliche Fehler unterlaufen, einer davon ist unser eigener Realitätsverlust. Betrachten wir zwei Aspekte unseres Problems mit der Realität:

1. Irgend jemand muss ja entscheiden, welche Daten wir in eure Gehirne schreiben. Wer ist das? Das Kultusministerium. Richtig. Auch richtig. Richtig ist auch, dass Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und unternehmernahe Organisationen immer mehr Einfluss auf die Entwicklung eurer Gehirne haben(1)(2)(3). Wirtschaftsnahe Institute produzieren Unterrichtsmaterialien (!), und da Werbung an Schulen verboten ist, bekommt sie als "Bildungssponsoring" einfach einen anderen Namen(4). Es gibt PR-Agenturen, die Unternehmern Bildungskommunikation als "wichtigen Bestandteil der Gesamtmarketingstrategie" anbieten.

Warum sehe ich das so kritisch? Weil wir Realität und Illusion nicht trennen können. Unsere Realität ist ein Spiel aus Wahrnehmung, Illusion, Täuschung, Erfahrung und genetischem Programm. Ein Spiel, das ununterbrochenem Wandel ausgesetzt ist. Objektivität gibt es nicht, aber als Erwachsene sollten wir wenigstens versuchen, euch Kindern ein so objektiv wie mögliches Bild der "Realität" zu vermitteln. Unser Bildungssystem profitorientierten Unternehmen anzuvertrauen ist ein Verbrechen.

2. Wir wollten das BESTE für euch, haben euch die bestmögliche Bildung zuteil werden lassen und euch auch, sofern dies ging, mit materiellem Wohlstand versorgt. Wir wollten aus euch intelligente, höfliche, liebenswerte, verantwortungsbewusste, pünktliche, humorvolle, zuverlässige, kreative, aufrichtige und hilfsbereite Menschen machen.

Sobald ihr allerdings die Augen aufmacht, Nachrichten schaut, eure Mitmenschen beobachtet, auch uns Eltern, seht ihr eine andere Realität. Und auch die schreiben wir in eure Hirne. Ungewollt zwar, aber massiv.

Ihr seht, wie wir lügen, betrügen, tricksen, übervorteilen, streiten, töten. Wir freuen uns, wenn wir Steuern hinterziehen und wenn wir ein gebrauchtes Auto zu teuer verkaufen, weil wir es vorher aufpoliert und den Tacho zurück gedreht haben. Euch dagegen sagen wir, ihr sollt lieb sein. Diesen Widerspruch schreiben wir in eure Festplatten. Zu einem großen Teil seid ihr dieser Widerspruch!

Wenn wir dann festgestellt haben, dass mit euch etwas nicht stimmt, beklagen wir den gerne zitierten Werteverlust unserer Gesellschaft. Auch das nehmt ihr wahr und legt es kopfschüttelnd in euerem Hirn ab. Wenn wir allerdings wollen, dass ihr liebe Menschen werdet und wir gemeinsam unsere Welt retten, dann müssen wir aufhören, wir alle, uns gegenseitig zu belügen und zu bekriegen!

Im Namen aller Erwachsenen entschuldige ich mich dafür, ein falsches Bild unserer Welt in eure Köpfe geschrieben zu haben. Ich wünsche und hoffe, dass viele Menschen das ähnlich sehen und gemeinsam an der besseren Welt arbeiten, die wir uns und unseren Kindern wünschen.


(1)http://www.swr.de/report/presse/wem-gehoert-die-oekonomische-bildung/-/id=1197424/did=8024618/nid=1197424/ipa64y/

(2)https://www.igmetall.de/jupo-einfluss-wirtschaftlicher-interessengruppen-in-der-bildung-6687.htm

(3)https://www.gew.de/schule/oekonomische-bildung/

(4)http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/einflussnahme-auf-bildung-schulstoff-frei-haus-1.1763946

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