Welche Meinung habe ich?

"Meiner Meinerung nach...", "in my opinion (IMO)...", "à mon avis...". Wie oft hast du das schon gehört oder gesagt?

Wie bildest du dir deine Meinung? Du sammelst möglichst objektive Daten und Informationen aus möglichst verschiedenen Quellen und wägst danach ab, was dir am wahrscheinlichsten erscheint und deiner Auffassung am ehesten entspricht.

Dass solche Informationen oft veraltet, falsch oder bewusst manipuliert sind, hast du in den letzten Kapiteln erfahren. Das erschwert die Frage nach dem Meinungsbildungsprozess. Gehen wir in unserer persönlichen Geschichte zurück in eine Zeit, in der wir noch nicht so viele Fremdinformationen in unserer Hirnfestplatte hatten. Dazu eine kleine persönliche Geschichte:

Eines Tages, Ende des letzten Jahrtausends, stand ich wie jeden Morgen im Karlsruher Schlosspark und vollführte seltsame Zeitlupenbewegungen. An diesem Tag tauchte ein kleines, ca. 4 Jahre altes Mädchen auf (nennen wir es Charlotte) und fragte, was das sei. Ich erklärte, das sei eine chinesische Gymnastik, die mir gut täte, und sie hieße Tai Chi Chuan. Charlotte nickte und zog von dannen. Kurze Zeit später tauchte sie wieder auf und sagte: "mein Papa hat gesagt du bist ein Arschloch, du sollst Fußball spielen wie alle anderen auch".

Diese kleine Episode lehrt dich u.a.:

  • Erstens ist es offensichtlich, wer da gesprochen hat (nicht Charlotte, sondern Charlottes Papa).
  • Zweitens würdest du nie auf die Idee kommen, auf Charlotte böse zu sein. Auf wen dann? Auf ihren Vater? Auch er hat seine Informationen und "seine Meinung" von irgendwo her.
  • Wenn dich also bei nächster Gelegenheit jemand beileidigt, überlege dir, wen du dafür verurteilen willst!
  • Das Charlottesyndrom
Damit bezeichne ich die Illusion, der wir verfallen, wenn es um das Thema "eigene Meinung" geht. Diese Illusion ist ein Kernpunkt unseres Selbstverständnisses und unseres Ich-Bewusstseins. Sie trägt uns durch unser ganzes Leben, und sie ist durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt.


Diese Illusion beginnt zwangsläufig in unseren jüngsten Jahren, wenn unsere jungfräulichen Festplatten mit den Daten unserer Eltern beschrieben werden. Von deiner Mutter weißt du, wie die Farben heißen und deine Kuscheltiere, von ihr lernst du auch, was gut und böse ist, und die Ansichten deiner Eltern sind zunächst "deine" Ansichten. Du kannst immer wieder beobachten, wie kleine Kinder manchmal im Brustton der Überzeugung die Meinungen ihrer Eltern als die ihren zitieren.

Angenommen, Charlotte hört irgendwann ihre Tante Emmi sagen "Tai Chi entspannt mich, das ist gut für meine Gesundheit", dann hat sie zwei sehr unterschiedliche Meinungen in ihrer Festplatte abgespeichert. Aus diesen beiden Informationen kann sie dann "ihre" Meinung bilden. Was genau ist dann "ihre" Meinung? Der arithmetische Mittelwert der beiden Informationen?

Wie wir wissen, ist das alles viel komplexer. Vielleicht setzt sich Charlottes Papa oft und liebevoll mit seiner Tochter auseinander, ist für sie da und geht oft mir ihr spielen. Charlotte fühlt sich wohl und geborgen. Dann hat seine Ansicht mehr Gewicht als bei einem jähzornigen Alkoholiker, der selten zu Hause anzutreffen ist. In den jeweiligen Background ist dann auch Tante Emmis Aussage einzubetten. Je nachdem, wirkt Emmis Meinung stärker oder schwächer auf Charlotte. Meinungsbildung ist ein äußerst komplexer Prozess mit starkem emotionalen und intuitiven Anteil!

Wie die beiden Informationen über Tai Chi in Charlottes Gehirn verschaltet werden, hängt von sehr vielen Einflüssen ab. Der arithmetische Mittelwert wird wohl kaum zu ihrer Meinung, aber darum geht es hier nicht. Für unsere Betrachtung ist wichtig:

Charlotte ist der Meinung, ihre Meinung sei ihre Meinung. Dabei handelt es sich faktisch um die Ansichten ihres Papas bzw. ihrer Tante!

Mit der Zeit, mit dem Älter werden und mit jeder neuen Information wird der Meinungsbildungsprozess komplexer. Dann setzt sich Charlottes Meinung aus vielen unterschiedlichen anderen Meinungen (Informationen, Fakten, Recherchen usw.) zusammen. Die Gewichtung, Verarbeitung und Interpretation der ihr zur Verfügung stehenden Informationen unterliegen unzähligen Einflüssen (u.a. Genetik, Erziehung, Umwelteinflüsse, soziale Faktoren). Wodurch Meinungsbildungsprozesse besonders im Internet beeinflusst werden, kannst du unter Suchworten wie z.B. Filterblasen, Schweigespirale, Digital Gerrymandering, SEME und Mehrheitsillusionen weiter erforschen.

"Charlottes Meinung" ist ein hoch komplexes Konstrukt, eine mathematisch-emotional-intuitive und genstruktur-prädisponierte Synthese aus der Meinung Anderer und aus vielen Informationen unterschiedlichster Quellen, seien sie objektiv oder manipuliert. Alles von außen in ihr Hirn gestreamt.

Und Charlotte glaubt fest daran, ihre Meinung sei ihre Meinung.

Wir leiden alle unter dem Charlottesyndrom!


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